100 Jahre anthropologische Rudolf Virchow-Sammlung der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte

– Tatsachen und Perspektiven –

 

Die anthropologische Rudolf Virchow-Sammlung existiert als solche seit 1905. Durch mehr als 4000 Nummern sind vorwiegend menschliche Kranien bzw. Kalvarien gekennzeichnet. Daneben befinden sich im Sammlungsgut aber auch postkraniale Skelettreste, einzelne Primatenschädel und sonstige Tierknochen sowie sog. Anthropologika (Haarreste, Gipsabgüsse von Skelettelementen oder ganzen Körperteilen – z.B. von Köpfen, sowie ehedem auch Flüssigkeitspräparate). Der Erhaltungszustand der Objekte ist in der Regel gut, sofern dieser nicht bereits beim Erwerb problematisch war. Das Sammlungsgut wurde im wesentlichen auf das unermüdliche und zielstrebige Betreiben Rudolf Virchows von zahlreichen Sammlern während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus aller Welt zusammengetragen. Es dokumentiert somit Sachverhalte aus einem Abschnitt der Entwicklung zur heutigen Menschheit, der noch weitgehend unberührt war von Einflüssen moderner Zivilisation.

Hinsichtlich ihrer Zeitstellung leiten die musealen Objekte in Einzelfällen sogar bis ins Neolithikum zurück. Eine weitere Besonderheit der Kollektion liegt darin, dass Virchow nicht ausschließlich daran gelegen war, "typische" Vertreter dieser oder jener "Race" zu erlangen. Sein weit über den Zeitgeist jener Epoche hinausreichendes Interesse verlangte nach Sammlungen, an denen er die natürliche Variabilität innerhalb von Bevölkerungen selbst studieren konnte, um hernach möglicherweise "Typisches" herauszufiltern. Dieser Intention verdanken wir nicht nur Serien sondern darüber hinaus auch Reste von Kindern und Jugendlichen im Sammlungsgut.

Historisch geht die Sammlung auf drei Wurzeln zurück: die seit 1869 bestehende Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte besaß ihrerseits Objekte. Virchow selbst konnte aufgrund von Stiftungsmitteln als Sponsor und Käufer handeln, und er verfügte über persönliche Zusendungen. Die genannten Teile wurden drei Jahre nach Virchows Tod zur "Rudolf Virchow-Sammlung der Berliner Anthropologischen Gesellschaft" zusammengeführt. Unter Felix von Luschans Federführung erhielten die einzelnen Objekte hernach ihre definitive, seitdem bestehende Kennzeichnung: "R.V." plus Nummer. Der gleichzeitig in Angriff genommene Katalog ist jedoch wegen der Wirren des Ersten Weltkrieges nicht abgeschlossen worden. Sammlungszugänge gab es dennoch bis zu Beginn der Zwanziger Jahre. Für die Zeit zwischen 1930 und 1956 ist das Schicksal der Sammlung nur unscharf nachzuzeichnen. Erst ab 1964 erfolgen planmäßige Restaurierungs- und Identifizierungsarbeiten (bis 1976: Ingrid Wustmann, danach Ulrich Creutz).

Seit 1990 gibt es wieder ein vollständiges Verzeichnis über die vorhandenen Kranien bzw. deren Überreste von 3365 Individuen. Verluste durch Diebstahl oder durch puren Zerfall von Knochensubstanz während notwendiger Aus- und vor allem Umlagerungen sowie durch unkenntlich gewordene Beschriftungen an dennoch vorzeigbaren Schädelresten sind in dieser Zahl nicht enthalten. Inwieweit die Differenz zur höchsten, bisher aufgefundenen "R.V.-Nr." (R.V. 4094) durch "Anthropologika", Gipse, Einzelknochen ... einmal aufgefüllt werden kann ist derzeit noch ungeklärt.

Als rein wissenschaftliche Sammlung ist die RVS nicht für die breite Öffentlichkeit zugänglich. Das nicht nur aus historischen Gründen einmalige Sammlungsgut steht aber im Berliner Medizinhistorischen Museum zur Nutzung durch Fachleute bereit. Es gibt zu denken, dass mehrheitlich Ausländer den Wert der Sammlung erkennen.

Mindestens den Verantwortlichen für wissenschaftliche Sammlungen muss klar sein, dass Objekte, die aus originärem Naturgeschehen heraus entstanden sind und dazu bestimmt wurden, dieses in wissenschaftlichen Sammlungen zu repräsentieren, einen völlig anderen Charakter haben als "gemachte" Objekte aus der materiellen Kultur der Menschheit. Für Sachzeugen aus der belebten Natur gibt es keinen vollwertigen künstlichen Ersatz, auch nicht durch noch so gute Moulagen oder Dokumentationen. Nachfolgende (Forscher-)Generationen werden ihre Vorgänger also genau so wie wir danach beurteilen, was diese getan oder unterlassen haben, damit gerettet werde was sonst unwiederbringlich verloren ginge.

Logischerweise könnten die derzeit viel umschwärmten Analyseverfahren einmal zur bezahlbaren Routine werden und außerdem wesentlich zuverlässiger und wahrscheinlich sogar zerstörungsfrei gegenüber der Substanz arbeiten. Heute nicht zu erahnende neue Verfahren werden hinzu kommen. Eine künftige Wissenschaft vom Menschen, deren Inhalte wir ebenfalls nicht kennen, wird darum erst recht nicht ohne originale Sachzeugen auskommen, wenn Vergleiche zwischen einst und "jetzt" – nun aber mit anderen Möglichkeiten – ausgewertet werden sollen.

Ulrich Creutz